Ich bin Jugendwart eines Schachvereins. Ansonsten erlebe ich wenig Abenteuer.
Man muss sagen, dass Schachspielen viel Spaß macht, aber ab einem bestimmten Leistungsniveau auch leicht in Arbeit ausarten kann. Das betrifft die Vorbereitung: Hat man immer Lust, die neuesten Eröffnungstricks zu verfolgen? Seht ihr. Hat man nicht. Das betrifft aber auch die Partie selbst: Gerade weil man sich nicht vorbereitet hat, muss man betrübliche Damenflügel vor dem Zusammenbruch retten; oder aber mehrere Springer verknäueln sich zu einem taktischen Gewitter und verlangen nach kräftezehrenden Berechnungen. Seht ihr, das macht nicht immer Spaß, und es gibt sie schon, diese selbstkrtischen Augenblicke, wo du dich am Sonntagmorgen um neun fragst, ob es eine gute Idee war, zur BMM zu fahren.
Oh wie schön waren die Zeiten, als man sich köstlich über eine Bauerngabel freute oder vor Entzücken schier aus dem Häuschen geriet (Zitat Tarrasch) wegen eines Matts in zweieinhalb offensichtlichen Zügen! Oh wie schön waren diese Zeiten, und wie weit sind sie in die Vergangenheit gerückt … Außer du bist Jugendwart und bringst Kindern das Schachspielen bei, und dieser Weg ist lang und dornig. Aber spaßig.
Zum Beispiel wenn diese Sechsjährige, die kaum die Gangart der Figuren versteht, mit dem Turm alle Gummibärchen auffrisst, die die c-Linie entlang liegen. Oder wenn du bei einem Kinderturnier alle Kinderprobleme auf einen Haufen hast: Wer kommt überhaupt mit? Berührt, geführt. Drücken der Uhr mit derselben Hand, mit der du die Figuren gezogen hast. Wo ist der Rucksack? Nicht reden während der Partie. Auf den Händen sitzen. Auf die Siegerehrung warten. Immer gucken: Was droht er? An welchem Brett spiele ich?
Oder, sehr lustig, wenn man mit Kindern zu einem Turnier fährt. Es kommt ein bisschen auf die Verbindungen an, aber ÖPNV ist um Klassen unterhaltsamer als ein PKW. Da gibt es die Hartgesottenen, die im Zug hin zum Spiellokal und im Zug wieder nach Hause ein Handy mit Schach-App in der Hand halten. Oder die Taktikaufgaben haben wollen. Da gibt es die anderen, die auf dem Alexanderplatz fast verloren gehen und zu spät kommen, so dass man auf den nächsten Zug warten muss, der nun seinerseits wieder Verspätung hat, so dass sich die Verspätungen aufsummieren. Spät abends ist man dann wieder zuhause. Oder da gibt es die Dritten, die dir die Ohren abquatschen von der Schule, der Tanzlehrerin, den Hausaufgaben, den Kaninchen und den Pferden. Denen zum Reiten.
Und erst das Adrenalin, wenn du bei Kinderpartien zuschaut. Sollst du nicht machen. Darfst du nur machen, wenn du starke Nerven hast. Und hältst du nicht lange durch. Schenkt dir pro Spieltag einen großen Satz graue Haare. Bei mir stammen achtig Prozent der grauen Haaer von Kinderschachturnieren, obwohl ich gar nicht mehr so viele Haare habe. Mit den Figuren, die die Kids einstellen, können andere ganze Weltmeisterschaften gewinnen. Es ist, als hättest du niemals Mattbilder geübt. Du weinst, du raufst dir die Haare, du faltest die Hände und betest zu Caissa, du zweifelst an dir und den Kindern und an der Welt sowieso, du flehst und klagst und haderst und resignierst: Deine Zöglinge spielen Schach.
Manchmal aber triumphierst du auch mit den Kids, manchmal bist du schon längst aus dem Spielsaal geflohen, deine Schützlinge, vier an der Zahl, haben insgesamt zwei Damen, vier Türme, je einen Läufer und einen Springer und ungezählte Bauern weniger, und du verkrümelst dich unter einer Treppe und hoffst, dass keiner weiß, dass du zu diesen kleinen Losern gehörst. Dann kommt der erste und hat den anderen mattgesetzt und gewonnen, dann kommt der zweite und hat den Turm weniger per Springergabel in eine Dame mehr verwandelt und gewonnen, und die Dritte wurde pattgesetzt und der Vierte, nun, der hat wirklich verloren, weil er „einen schlechteren Zug gemacht“ hat, aber eigentlich hätte er gesiegt.
Und dann bist du stolz und die Tränen trocknen und auf geht es zur nächsten Runde. Aber die Haare bleiben grau. Und du machst weiter, denn einen höheren Unterhaltungswert als eigene Partien hat das hier allemal.