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Textvorlage: Walser, Martin: "Die Subjektivität des Verstehens." In: Biermann, Heinrich/Bernd Schurf (Hgg.), Texte, Themen und Strukturen. Deutschbuch für die Oberstufe. Berlin 1999. S. 34. Aufgabe: Nehmen Sie Stellung zur zentralen These des Textes. Es gehört zum Schüleralltag im Deutschunterricht, dies verflixte Ratespiel ohne Preise: "Was will uns der Autor damit sagen?" So oder ähnlich heißt die Frage, die der Lehrer angesichts des literarischen Textes in die Luft gehängt hat, und nun wird fleißig ein Versuchsballon nach dem anderen losgelassen. Aber alle zerplatzen an den nadelspitzen Antworten: "Nein, so nicht. - Genauer. - Differenzierter. - Nur die Hälfte der Wahrheit." Erst wenn die Antwort zu hundert Prozent deckungsgleich ist mit der vorformulierten Weisheit im Hirn des Zampanos, also fast nie, ist der Text richtig interpretiert. Der Lehrer schreibt's schließlich an die Tafel, und die Schüler tragen's nach Haus. Genau dies tägliche Desaster ist Thema des Textausschnitts von Martin Walser, zu dem ich Stellung nehmen soll. Die Schüler würden in dem Glauben erzogen, "in einem Literaturwerk sei eine Bedeutung sozusagen verborgen [und] die müsse man herausbringen" (16-18). Lehrer gäben Noten danach, "wie nah der Schüler der vom Lehrer gehüteten Bedeutung komme" (41f.). Ein völlig falscher Ansatz, meint Walser. Eine "privilegierte Bedeutungsschöpfung" (35f.) gebe es seiner Erfahrung nach nicht. Vielmehr habe "jede Leserin und jeder Leser ein Naturrecht auf die eigene Empfindung und Leseerfahrung" (37-39); entscheidend sei, wie sie ihre "Leseerfahrung zu vermitteln im Stande seien" (44f.). Selbst das vollkommene Nichtverstehen sei "darstellens- und begründenswert und trainiere mindestens so sehr wie das Suchen und Finden und Darstellen der offenbar ostereihaft versteckten Bedeutung" (47-51). Dieser zentralen These Walsers vom unhintergehbaren Recht des Lesers auf seine eigene Leseerfahrung kann ich uneingeschränkt zustimmen. In der Tat kann beim heutigen Diskussionsstand der literaturwissenschaftlichen Hermeneutik niemand mehr ernsthaft von einem für alle Zeiten und alle Orte und alle Leser stabilen "Sinn" eines Textes ausgehen. Es ist vielmehr so, dass der historische, soziale und individuell-biografische Hintergrund, vor dem jemand etwas liest, entscheidend ist für den Sinn, den er aus dem Text heraus konstruiert. Und dieser bereits vorhandene "Verstehenshorizont", wie man das auch nennt, unterscheidet sich naturgemäß von Person zu Person beträchtlich. Nun ist damit allerdings nicht das Problem des Deutschunterrichts gelöst. Denn vollkommen beliebig kann Interpretation innerhalb des Schulunterrichts natürlich nicht sein. Es wäre im Unterricht nicht durchführbar, zahllosen Lesarten das gleiche Recht zu gewähren. Wenn Schüler interpretieren, sind daher einige Einschränkungen der Freiheit des Verstehens und des Redens darüber zu machen. Erstens müssen Schüler vertraut gemacht werden mit den historisch gewachsenen Lesarten eines Textes, denn der Unterricht findet selbst vor dem Hintergrund einer fachlichen Diskussion statt. Es ist meines Erachtens durchaus ge- rechtfertigt, eine gegebene Interpretation im Unterricht anhand des Textes zu erarbeiten, damit ein einheitliches Argumentationsniveau erreicht wird, von dem aus und in Abgrenzung zu dem dann eigene Lesarten begründet werden können. Zweitens, und das gibt Walser auch zu bedenken, ist es wichtig, wie Schüler ihre Leseerfahrung in Worte fassen. In der Regel ist es doch so, dass der Text erst nicht verstanden wird und dass dann die Darstellung des Nicht-Verstehens entsprechend ausfällt: Ungegliedert, fachsprachlich unsicher; kurz ein einziger Beweis des Scheiterns, so bitter das auch ist. Das Problem liegt dann nicht im abweichenden Verständnis, sondern in der mangelhaften Darstellung. Wenn jedoch ein Schüler Interpretationsansätze bringt, auf die der Lehrer nicht gekommen ist oder die überhaupt noch nicht bedacht worden sind, und wenn dieser Ansatz auch noch ansprechend formuliert wird: Dann zeige man mir den Lehrer, der sich nicht freut. (Ich jedenfalls bin dann immer geradezu begeistert, weil ich etwas Neues gelernt habe.) Drittens kann man in schulischem Zusammenhang einige Grundprinzipien des Interpretierens einfordern, die die Zahl der Lesarten deutlich einschränken. (Beim privaten Lesen kann man sie fröhlich ignorieren; das ist selbstverständlich.) So darf eine Interpretation wichtige, d.h. häufig vorkommende oder vom Autor deutlich aufgewertete Informationen nicht ignorieren; sie muss die Textdaten möglichst vollständig würdigen. Sie darf weiterhin keine Widersprüche enthalten und muss für andere Interessierte nachvollziehbar sein. Das heißt natürlich nicht, dass der zu interpretierende Text keine Widersprüche enthalten könnte; dies wäre dann aber seinerseits zu deuten. Eine Interpretation sollte schließlich einen gewissen "Nutzwert" haben. Eine Darstellung, die einen rätselhaften Text wie mit einem Scheinwerferspot "erhellt", die mir eine neue Sicht auf ein bestimmtes Problem vermittelt, die vielleicht sogar aufzeigt, dass der Text einen Appell enthält, den zu befolgen mein Leben bereichern könnte: Eine solche Darstellung wäre jeder anderen vorzuziehen, die mir nichts Neues sagt, die oberflächlich ist und den Text unter Wert verkauft. Fazit: Wer glaubt, mit der zentralen These des Walser-Textes einen Freibrief für Beliebigkeit im Deutschunterricht in der Hand zu halten, der irrt. Das hat Walser auch gar nicht gemeint. Die Vielzahl der Lesarten gibt es unbestritten, aber es gibt klare Regeln, wie man über diese Vielzahl von Lesarten reden muss: In Kenntnis der Tradition, fachsprachlich korrekt und methodisch einwandfrei. Dann ist jeder Interpretationsansatz nachvollziehbar, und dann wird er auch entsprechend gewürdigt. Lesetipp zu diesem Thema: Pennac, Daniel: Wie ein Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1994. (oder das französische Original: Comme un roman. Paris: Gallimard, 1992) (Verfasser: moutard, 2/2003, ca. 850 W.) |
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