Aufgabe: Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein wurde Schillers Lied von der Glocke von praktisch allen deutschen Schülern auswendig gelernt. Erklären Sie die Gründe dafür und nehmen Sie aus heutiger Sicht Stellung dazu.

Sinnvolle Äußerungen zu literarischen Texten müssen Aussagen zur Form und zum Inhalt enthalten, weil beides zusammen konstitutiv ist für die Bedeutung eines sprachlichen Kunstwerkes. Und das gilt auch, wenn sich die Frage wie im vorliegenden Fall auf einen Aspekt der Rezeptionsgeschichte bezieht. (Rezeptionsgeschichte: Das, was mit einem Text nach seiner Veröffentlichung geschehen ist; die Leitfragen dabei sind zum Beispiel: Welche Auflagen erreichte er? Wie reagierten die Zeitgenossen und die Nachwelt? Hat er auf andere Texte einen Einfluss gehabt?)

Die Glocke ist unter beiden Aspekten - Inhalt und Form - herausragend.

Die Form ist erstens außerordentlich elaboriert. Der Aufbau zeigt einen regelmäßigen Wechsel von Meistersprüchen und Betrachtungen, die beiden Ebenen des Gedichts sind deutlich voneinander abgesetzt; auch durch die die Metrik, die in den Meistersprüchen einen regelmäßigen Trochäus zeigt. In den Betrachtungen jedoch überzeugt die variable Handhabung von Jamben und daktylischen Versen in gar nicht starrer Vielfältigkeit.

Das Ganze ist zudem in durchaus dramatischer Form dargeboten. Hier werden keine trockenen Belehrungen vorgenommen, sondern spannende Geschichten erzählt. Glühende Metallmassen verbinden sich, Städte fallen Feuersbrünsten zum Opfer, und schließlich revoltieren sogar die Volksmassen - um sich am Schluss wieder schiedlich-friedlich zu einigen.

Der rhetorische Schmuck schließlich sucht seinesgleichen; Verse wie die von 155 bis 201 kann man gar nicht erschöpfend analysieren. Parallelismen und Anaphern treiben voran; Antithesen unterstreichen die schrecklichen Gegensätze im Krieg; Vergleiche und Metaphern, Neologismen und Onomatopoetika lassen den Text wie einen expressionistischer Kinofilm erscheinen. (V. 159-210 oder V. 354-381; hier müsste in einem Schülertext das eine oder andere konkrete Beispiel stehen.)

Aufgrund dieses formalen Reichtums können sich die Schüler die Glocke leicht einprägen. Und sie können sich ihrer Wirkung kaum entziehen.

Und das wollten die Lehrer, denn der Inhalt ist hervorragend geeignet, die bestehende Ordnung zu verherrlichen. Das bürgerliche Arbeitsethos, der Fleiß des Handwerks wird besungen; den Lesern - Männern und Frauen - werden eindeutige Rollenerwartungen geboten, die vor allem den Männern gefallen haben dürften; der Zusammenhalt wird gefeiert, die friedensstiftende Rolle des "Nachtwächterstaats" (V. 299) fraglos bestätigt; und schließlich steht alles durch das Symbol der Glocke in Zusammenhang mit der Religion, die alles von oben, von Gott her rechtfertigt.

Nach alledem ist klar geworden, warum die Herren in den Bildungsplankommissionen die Glocke so sehr betont haben. Es waren Männer (!) vom Staat (!) und von der Kirche (!), die natürlich außerordentlich daran interessiert waren, dass ihre Macht erhalten blieb. Indem sie die Glocke in alle Hirne pflanzten, haben sie sehr viel dafür getan.

Heute, in einer pluralistischen Gesellschaft, kann natürlich niemand mehr ein einziges Gedicht so sehr in den Mittelpunkt stellen. Das Auswendiglernen hat immer noch sein Recht - und wird zu wenig praktiziert -, aber ein Text wie die Glocke kann nur noch als historisches Dokument einer vergangenen Zeit interessieren. Der formale Bombast wirkt heute befremdlich, die inhaltliche Botschaft vollkommen veraltet. Aber der Text hat eine Wirkung gehabt, und das kann man nicht von allen Gedichten behaupten.

(Verfasser: moutard, 11.04.2003, ca. 460 W.)