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Motto (vor der ersten Seite)
Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit. (Julian Schmidt)

Ostrau ist eine kleine Kreisstadt unweit der Oder, bis nach Polen hinein berühmt durch ihr Gymnasium und süße, Pfefferkuchen, welche dort noch mit einer Fülle von unverfälschtem Honig gebacken werden. In diesem altväterischen Orte lebte vor einer Reihe von Jahren der königliche Kalkulator Wohlfart, der für seinen König schwärmte, seine Mitmenschen - mit Ausnahme von zwei Ostrauer Spitzbuben und einem groben Strumpfwirker - herzlich liebte und in seiner sauren Amtstätigkeit viele Veranlassung zu heimlicher Freude und zu demütigem Stolze fand. Er hatte spät geheiratet, bewohnte mit seiner Frau ein kleines Haus und hielt den kleinen Garten eigenhändig in Ordnung. Leider blieb diese glückliche Ehe durch mehrere Jahre kinderlos. Endlich begab es sich, daß die Frau Kalkulatorin ihre weißbaumwollene Bettgardine mit einer breiten Krause und zwei großen Quasten verzierte und unter der höchsten Billigung aller Freundinnen auf einige Wochen dahinter verschwand, gerade nachdem sie die letzte Falte zurechtgestrichen und sich überzeugt hatte, daß die Gardine von untadelhafter Wäsche war. Hinter der weißen Gardine wurde der Held dieser Erzählung geboren.
Anton war ein gutes Kind, das nach der Ansicht seiner Mutter vom ersten Tage seines Lebens die staunenswertesten Eigenheiten zeigte. [...] Seine größte Freude aber war, dem Vater gegenüberzusitzen, die Beinchen übereinanderzulegen, wie der Vater tat, und aus einem Holunderrohr zu rauchen, wie sein Herr Vater aus einer wirklichen Pfeife zu tun pflegte. Dann ließ er sich allerlei vom Vater erzählen, oder er selbst erzählte seine Geschichten. Und das tat er, wie die Frauenwelt von Ostrau einstimmig versicherte, mit so viel Gravität und Anstand, daß er bis auf die blauen Augen und sein blühendes Kindergesicht vollkommen aussah wie ein kleiner Herr im Staatsdienst. Unartig war er so selten, daß der Teil des weiblichen Ostrau, welcher einer düsteren Auffassung des Erdenlebens geneigt war, lange zweifelte, ob ein solches Kind heranwachsen könne; bis Anton endlich einmal den Sohn des Landrats auf offener Straße durchprügelte und durch diese Untat seine Aussichten auf das Himmelreich in eine behagliche Ferne zurückhämmerte. Kurz, er war ein so ungewöhnlicher Knabe, wie nur je das einzige Kind warmherziger Eltern gewesen ist. Auch in der Bürgerschule und später im Gymnasium wurde er ein Muster für andere und ein Stolz seiner Familie.

Anfang des folgenden Textes: Soll und Haben. Roman in sechs Büchern von Gustav Freytag. Regensburg o. J. (zuerst erschienen 1855)


"Mach jetzt die Kerze an", sagte eine Stimme.
Man hörte nichts, nur dieses seltsame, so furchtbar sinnlose Rascheln, wenn jemand nicht schlafen kann.
"Du sollst die Kerze anmachen", sagte dieselbe Stimme schärfer.
Endlich konnte man den Geräuschen entnehmen, daß ein Mensch sich bewegte, die Decke beiseite schlug und sich aufrichtete; man hörte das daran, daß der Atem nun von oben kam. Auch das Stroh raschelte.
"Na?" sagte die Stimme.
"Der Leutnant hat gesagt, wir sollen die Kerze erst auf Befehl anmachen, in der Not ...", sagte eine jüngere, sehr zaghafte Stimme.
"Du sollst die Kerze anmachen, du verdammter Rotzjunge", schrie jetzt die ältere Stimme.
Auch er richtete sich jetzt auf, und ihre Köpfe lagen im Dunkeln nebeneinander, und ihre Atemstöße verliefen parallel.
Der, der zuerst gesprochen hatte, verfolgte gereizt die Bewegungen des anderen, der die Kerze irgendwo im Gepäck versteckt hatte. Seine Atemstöße wurden ruhiger, als er endlich das Geräusch der Zündholzschachtel vernahm.
Dann zischte das Zündholz auf, und es wurde Licht: ein kümmerliches gelbes Licht.
Sie blickten sich an. Immer, wenn es wieder hell wurde, blickten sie sich zuerst an. Dabei kannten sie sich gut, viel zu gut. Sie haßten sich fast, so gut kannten sie sich; sie kannten ihren Geruch, fast den Geruch jeder Pore, und doch blickten sie sich an, der Ältere und der Jüngere. Der Jüngere war blaß und schmal und hatte ein Niemandsgesicht, und der Ältere war blaß und schmal und unrasiert und hatte ein Niemandsgesicht.
"Na", sagte der Ältere, jetzt ruhiger, "wann wirst du endlich lernen, daß man nicht alles tut, was die Leutnants sagen ..."
"Er wird ...", wollte der jüngere anfangen.
"Er wird gar nichts", sagte der.Altere wieder scharf und zündete eine Zigarette an dem Licht an, "er wird die Schnauze halten, und wenn er sie nicht hält, und ich bin gerade nicht da, dann sag ihm, er soll warten, bis ich käm, ich hätte das Licht angemacht, verstehst du. Ob du verstehst?"
"Jawohl."
"Laß dieses Scheißjawohl, sag ruhig ja zu mir. Und mach das Koppel ab", er schrie jetzt wieder, "zieh dieses verdammte Scheißkoppel aus, wenn du schläfst."
Der jüngere blickte ihn ängstlich an und zog das Koppel aus und legte es neben sich ins Stroh.
"Roll den Mantel zusammen und leg ihn als Kopfkissen hin. So. Ja ... und nun schlaf, ich wecke dich, wenn du sterben mußt ..."
[...]

Anfang des Textes: "In der Finsternis." Aus Heinrich Böll: Wanderer, kommst du nach Spa ... (1950). München: dtv, 1967. S. 104-111, dieser Ausschnitt: S. 104f.