Erster Teil |
1 | Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht. |
2 | Das Haus in der Bahnhofstraße steht heute nicht mehr. |
3 | Ich wußte den Namen der Frau nicht. |
4 | "Wart noch", sagte sie, als ich aufstehen und gehen wollte, "ich muß auch los und komm ein Stück mit." |
5 | Eine Woche später stand ich wieder bei ihr vor der Tür. |
6 | Sie war nicht zu Hause. |
7 | In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt. |
8 | In den nächsten Tagen hatte die Frau Frühschicht. |
9 | Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke? |
10 | Am ersten Tag der Osterferien stand ich um vier auf. |
11 | Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferien nicht mehr glücklich gewesen wären. |
12 | Während ich keine Erinnerungen an die Lügen habe, die ich meinen Eltern zur Fahrt mit Hanna präsentierte, erinnere ich mich an den Preis, den ich zahlen mußte, damit ich in der letzten Ferienwoche alleine zu Hause bleiben konnte. |
13 | Ich habe den Beginn eines Schuljahres immer als Einschnitt empfunden. |
14 | Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Fluges. |
15 | Dann habe ich begonnen, sie zu verraten. |
16 | Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren. |
17 | Am nächsten Tag war sie weg. |
Zweiter Teil |
1 | Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu halten, bis ich mich daran gewöhnte, daß die Nachmittage ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen geeignet wären. |
2 | Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder. |
3 | Die Gerichtsverhandlung war in einer anderen Stadt, mit dem Auto eine knappe Stunde entfernt. |
4 | Ich habe keinen Tag der Gerichtsverhandlung ausgelassen. |
5 | In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen. |
6 | Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen können. |
7 | Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach, den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die Bereitwilligkeit, mit der Hanna zugab, die anderen Angeklagten. |
8 | Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach dem Prozeß. |
9 | "Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?" |
10 | An die freitäglichen Seminarsitzungen habe ich keine Erinnerung. |
11 | Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, hatten die anderen Angeklagten leichtes Spiel. |
12 | Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden. |
13 | Im Juli flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel. |
14 | Ich beschloß wegzufahren. |
15 | Ich bin unlängst noch mal hingefahren. |
16 | Ich bin dann doch zum Vorsitzenden Richter gegangen. |
17 | Ende Juni wurde das Urteil verkündet. |
Dritter Teil |
1 | Den Sommer nach dem Prozeß verbrachte ich im Lesesaal der Universitätsbibliothek. |
2 | Ich habe als Referendar geheiratet. |
3 | Als ich mein zweites Examen schrieb, starb der Professor, der das KZ-Seminar veranstaltet hatte. |
4 | Nach dem Referendariat mußte ich mich für einen Beruf entscheiden. |
5 | Mit der Odysse habe ich angefangen. |
6 | Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen Kontakts kam ein Gruß. |
7 | Ich habe mir damals keine Gedanken gemacht, daß Hanna eines Tages entlassen würde. |
8 | Am nächsten Sonntag war ich bei ihr. |
9 | Die kommende Woche war besonders geschäftig. |
10 | Am nächsten Morgen war Hanna tot. |
11 | Es wurde Herbst, bis ich Hannas Auftrag erledigte. |
12 | Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück. |
Diese Anfangssätze habe ich gesammelt, weil sie erstens eine ausgezeichnete Hilfe bei der Orientierung über den Inhalt des Romans darstellen; weil sie zweitens besonders einprägsam formuliert und durchaus ein Merkmal des Autorstils von Bernhard Schlink sind; und weil sie drittens fast alle besonders ergiebig interpretiert werden können.