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Bernhard Schlink

Der Vorleser

Erster Teil
1Als ich fünfzehn war, hatte ich Gelbsucht.
2Das Haus in der Bahnhofstraße steht heute nicht mehr.
3Ich wußte den Namen der Frau nicht.
4"Wart noch", sagte sie, als ich aufstehen und gehen wollte, "ich muß auch los und komm ein Stück mit."
5Eine Woche später stand ich wieder bei ihr vor der Tür.
6Sie war nicht zu Hause.
7In der folgenden Nacht habe ich mich in sie verliebt.
8In den nächsten Tagen hatte die Frau Frühschicht.
9Warum macht es mich so traurig, wenn ich an damals denke?
10Am ersten Tag der Osterferien stand ich um vier auf.
11Nicht daß Hanna und ich nach dem ersten Tag der Osterferien nicht mehr glücklich gewesen wären.
12Während ich keine Erinnerungen an die Lügen habe, die ich meinen Eltern zur Fahrt mit Hanna präsentierte, erinnere ich mich an den Preis, den ich zahlen mußte, damit ich in der letzten Ferienwoche alleine zu Hause bleiben konnte.
13Ich habe den Beginn eines Schuljahres immer als Einschnitt empfunden.
14Wenn bei Flugzeugen die Motoren ausfallen, ist das nicht das Ende des Fluges.
15Dann habe ich begonnen, sie zu verraten.
16Ich habe nie erfahren, was Hanna machte, wenn sie weder arbeitete noch wir zusammen waren.
17Am nächsten Tag war sie weg.
Zweiter Teil
1Nachdem Hanna die Stadt verlassen hatte, dauerte es eine Weile, bis ich aufhörte, überall nach ihr Ausschau zu halten, bis ich mich daran gewöhnte, daß die Nachmittage ihre Gestalt verloren hatten, und bis ich Bücher ansah und aufschlug, ohne mich zu fragen, ob sie zum Vorlesen geeignet wären.
2Ich sah Hanna im Gerichtssaal wieder.
3Die Gerichtsverhandlung war in einer anderen Stadt, mit dem Auto eine knappe Stunde entfernt.
4Ich habe keinen Tag der Gerichtsverhandlung ausgelassen.
5In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen.
6Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen können.
7Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach, den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die Bereitwilligkeit, mit der Hanna zugab, die anderen Angeklagten.
8Die deutsche Fassung des Buchs, das die Tochter über ihre Zeit im Lager geschrieben hatte, erschien erst nach dem Prozeß.
9"Warum haben Sie nicht aufgeschlossen?"
10An die freitäglichen Seminarsitzungen habe ich keine Erinnerung.
11Indem Hanna zugab, den Bericht geschrieben zu haben, hatten die anderen Angeklagten leichtes Spiel.
12Ich beschloß, mit meinem Vater zu reden.
13Im Juli flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel.
14Ich beschloß wegzufahren.
15Ich bin unlängst noch mal hingefahren.
16Ich bin dann doch zum Vorsitzenden Richter gegangen.
17Ende Juni wurde das Urteil verkündet.
Dritter Teil
1Den Sommer nach dem Prozeß verbrachte ich im Lesesaal der Universitätsbibliothek.
2Ich habe als Referendar geheiratet.
3Als ich mein zweites Examen schrieb, starb der Professor, der das KZ-Seminar veranstaltet hatte.
4Nach dem Referendariat mußte ich mich für einen Beruf entscheiden.
5Mit der Odysse habe ich angefangen.
6Im vierten Jahr unseres wortreichen, wortkargen Kontakts kam ein Gruß.
7Ich habe mir damals keine Gedanken gemacht, daß Hanna eines Tages entlassen würde.
8Am nächsten Sonntag war ich bei ihr.
9Die kommende Woche war besonders geschäftig.
10Am nächsten Morgen war Hanna tot.
11Es wurde Herbst, bis ich Hannas Auftrag erledigte.
12Inzwischen liegt das alles zehn Jahre zurück.

(1995)

Diese Anfangssätze habe ich gesammelt, weil sie erstens eine ausgezeichnete Hilfe bei der Orientierung über den Inhalt des Romans darstellen; weil sie zweitens besonders einprägsam formuliert und durchaus ein Merkmal des Autorstils von Bernhard Schlink sind; und weil sie drittens fast alle besonders ergiebig interpretiert werden können.

moutard, 1/2006