Es ist nicht zu fassen. Vor über fünfhundert Jahren machte sich Europa auf den Weg, neue Welten zu erkunden, und seitdem ist Bewegung im Laden, und seitdem kann sich niemand mehr darauf verlassen, dass seine Welt immer so sein wird, wie Oma und Opa es ihm erzählt haben. Das nennt man Moderne, und die hat zu Erkenntnissen geführt wie der, dass sich nicht die Sonne um die Erde dreht, sondern umgekehrt; dass die Kirche nicht immer nur die Wahrheit sagt, sondern eher eigene Interessen verfolgt; dass Könige nicht vom lieben Gott eingesetzt sind, sondern das nur von sich behaupten; dass Krankheiten nicht von dubiosen Miasmen verursacht werden, sondern von kleinen Tierchen; dass die Lichtgeschwindigkeit nicht zu toppen ist; dass Atome teilbar, Menschen mit Migrationshintergrund nicht böse und K.I.Z cool sind.
Und kaum macht man eine neue Webseite für die Schule, kommen alle an und heulen rum.
Man findet nichts mehr. Der Stundenplan ist nicht erreichbar. Wieso steht da das Wort Blog. Das geht nicht. Da steht Fehler 404 oder so. Das Internet ist kaputt. Ich kann hier nichts veröffentlichen, ich kann nämlich nicht programmieren. Da fehlt das Logo. Da stand so eine komische Aufgabe, so was wie sieben plus Lücke gleich sechzehn. Hallo?! Schön, wie sich die Bilder da bewegen, ach, das ist eine dynamische Webseite. Datenbank? Wollen wir hier gar nicht verstehen. WordPress. Aber bitte nur mit Klarnamen. Da fehlt aber noch das Logo. Wo soll ich hier klicken. Ich will nicht, dass man mich bei Google findet.
Das wäre eigentlich nur putzig, aber es macht mir klar: Das Problem sitzt vor dem Computer. Wenigstens in den Schulen. Medienkompetenz, heißt es, wird groß geschrieben. Studierfähigkeit, heißt es, sollen die Schüler erreichen. Wird ihnen in der Schule von Lehrern beigebracht.
Dass ich nicht lache. Nicht erst seit heute ist klar, dass man von Lehrern genau das nicht erwarten kann, was sie täglich von Schülern verlangen: Nämlich sich auf Neues einzulassen, etwas zu lernen, einzusehen, dass man sich anstrengen muss für Dinge, deren Sinn sich erst in der Zukunft erhellt. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Dabei gibt es nichts, was man sich per Learning by doing so gut aneignen kann wie Kompetenz im Umgang mit Computern. Für kein Problem im Zusammenhang mit Computern gibt es die Entschuldigung, dass man nicht rausgekriegt hat, wie man es lösen kann. Theologen wissen: „Scriptura scripturam interpretar“ („Die Schrift erklärt die Schrift“, das heißt, wenn du eine Stelle der Bibel nicht verstehst, wirst du an anderer Stelle die Antwort finden), und ich sage: „Der Computer erklärt den Computer; das Internet erklärt das Internet.“
Es gibt kein Problem, das nicht schon anderen aufgefallen und dessen Lösung nicht längst irgendwo im Internet beschrieben worden wäre. Und Google „versteht“ mittlerweile normalsprachlich formulierte Fragen. Stell die Frage, und du bekommst die Antwort. Vielleicht musst du ein bisschen pfriemeln bei der Formulierung oder runterscrollen in den Ergebnissen, aber du bekommst sie.
Hatte ich schon gesagt, dass das Problem vor dem Computer sitzt?
Es gibt kein computer- oder internetbezogenes Wort, das nicht längst im Computer oder im Internet vollkommen verständlich erklärt würde. Schon mal von der Taste F1 gehört? Oder dem Wort „Hilfe“ oder dem Fragezeichen in der Menuleiste? Man könnte ja mal draufklicken, kost ja nichts.
Oder: Was tun, wenn „Fehler 404“ oder „Oops … 404 Error“ auf dem Bildschirm erscheint? Das tun: Neuen Tab öffnen, in Wikipedia (hat man längst schlauerweise in die Lesezeichensymbolleiste geklebt) nach „Fehler 404“ suchen, und zwei Sekunden später steht da was vom „toten Link“. Kapiert man übrigens auch ohne weitere Erklärung, denn, ihr Bildungsbürger werdet es kaum glauben: Informatiker lieben bildkräftige und ausdrucksstarke Metaphern. Gibt es bei Goethe eine ähnlich passende Bezeichnung für etwas völlig Neues wie „Brotkrümel-Navigation“ für den komplett dargestellten und anklickbaren Pfad einer Datei? Die Nerds haben Hänsel und Gretel gelesen und ins 21. Jahrhundert gerettet.
Jeden Arbeitsgang am Computer kann man einfach so probeweise durchführen und per Versuch und Irrtum optimieren. Entweder erstellt man eine Sicherungskopie seiner Daten und fuchtelt mit Testdaten herum. Oder man verlässt sich auf die Undo- oder Rückgängig-Funktion des Anwendungsprogramms: Segensreiche Taste Strg+Z ! Klar, wenn man Bildhauer ist, gehen zerbröckelnde Marmorblöcke auf die Dauer ins Geld; Trial and error wird teuer. Das Argument kann man am Rechner aber getrost vergessen: Ausprobieren, Fehler machen, aus Fehlern lernen: All das ist machbar geworden, nicht mehr nur symbolisch – wie immer schon –, sondern ganz real.
Hab ich schon gesagt, dass das Problem vor dem Computer sitzt?
Da fehlt nämlich der Wille, sich das verdrießliche Geschäft des Selber-Denkens zuzumuten. Es ist ja so einfach, wenn das jemand anderes für mich macht. Muss ich mir merken, dass man ein Programm schließt, indem man auf dieses komische X oben rechts klickt? Nein, denn es läuft ja immer irgendwer in der Gegend herum, den ich fragen kann. Und in .de war es schon immer schick, sich in Sachen Mathematik, Naturwissenschaft, Technik und neuerdings auch Computer für unfähig zu erklären. Stattdessen ist man lieber sensibel mit poetischen Versen unterwegs, putzt jeden Tag seinen Vorrat an billigen Merksprüchen und vertraut auf die erstaunliche Hilfsbereitschaft der Nerds.
Habe Mut, dich deiner Tastatur, deiner Maus und des Internets zu bedienen, lautet also der Wahlspruch der informationstechnischen Aufklärung im 21. Jahrhundert, und Mut ist ehrlich gesagt gar nicht mehr erforderlich, man wird nicht mehr verhaftet, wenn man etwas wagt, sondern man muss nur die Daten neu einspielen.
Informationstechnische Grundbildung heißt demnach Folgendes.
Sei neugierig: Frage nach, es geht mit Sicherheit. Sei faul: Prüfe, ob es der Computer nicht einfacher, besser und schneller kann. Sei clever: Die Rechenknechte und ihre Programme arbeiten alle nach den gleichen Prinzipien – die musst du nur kapieren. Sei mutig: Tu’s einfach; wenn’s schief geht, dann weißt du immerhin, dass es so nicht geht.
Und warum das alles? Warum ist ITG notwendig?
Erstens, weil es unerhört ist, dass in Schulen immer noch Leute herumlaufen dürfen, die mit ihrer Computerunverträglichkeit kokettieren, als handele es sich um so was wie eine Laktoseintoleranz, um so was wie eine Krankheit, die die anderen zu akzeptieren haben. Denn sie bremsen die anderen aus, die sich die Mühe machen, die Dinge zu verstehen, denn vollkommen kostenlos ist das ja nicht. Als wäre heute noch in einer Handwerkerfirma ein Kollege denkbar, der mit einer Handbohrmaschine an Betonwänden herumkrittelt, während die anderen seinen Job erledigen.
Zweitens, weil sonst die Nerds unverdiente Macht bekommen. Einst behaupteten Priester und Seher, an den Brüsten der Wahrheit gesaugt zu haben und deshalb über andere herrschen zu dürfen. Heute ist dieser Berufsstand fast ganz ausgestorben, aber … vielleicht sind es ja mittlerweile die Informatiker, die die Fäden in den Händen halten? Ist das in Ordnung so? Nein.