Leider muss man als literaturaffiner Schachspieler alle Bücher lesen, in denen Schach vorkommt. Selbst wenn es nur auf dem Titelblatt steht; schon aus Respekt.
Nun bin ich aber einem unfassbar dreisten Etikettenschwindel auf den Leim gegangen: Patrick Worrall nutzt in „Endspiel“ das Schachspiel nur als an sehr dünnen Haaren herbeigezogene Erklärung dafür, dass seine beiden Helden sich im Kalten-Kriegs-Europa begegnen. Sie hätten auch Leichtathleten sein können.
Von Schach hat Worrall keine Ahnung. Schon wie seine Heldin Julija Schach lernt (immer in der Verteidigung sein und erst nach einem Jahr die ersten ganze Partie zu spielen), ist an Schlichtheit nicht zu überbieten. Einfach undenkbar. Und der dann der Ansatz, wie sie es hinbekommt, auf den Ranglisten nach oben zu klettern (immer abtauschen und die Gegner im Endspiel zu besiegen, welche ob der Abtauschorgien ganz verwirrt seien): Voll kommen abwegig.
Den Rest an Schach spare ich mir hier; wird nicht besser.
Die Geschichte an sich ist dann nicht ganz so hanebüchen; vor allem die Darstellung litauischer Partisanen ist kraftvoll. Allerdings ist nicht ganz klar, warum es ungefähr drei sehr unabhängige Erzählstränge sein müssen, die da mäandern. Ein bisschen Hannibal Lecter, ein bisschen James Bond, und wie gesagt Litauen. Aber geschenkt. Witzig ist immerhin eine Szene (aber nur eine):
London 1961. Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes wollen Julija zur Rede stellen, weil sie zu spät ins Hotel zurückgekommen ist. Sie schaffte es aber gerade noch rechtzeitig, über den Balkon in ihr Hotelzimmer zu klettern.
Die sechs Männer von der Botschaft standen in dem kleinen Zimmer wie Pendler in einem vollbesetzten Zug. Sie wichen ein Stück zurück, als Julija eine Flut von Obszönitäten auf sie losließ, in denen sie die eheliche Treue ihrer Mütter infrage stellte sowie detailliert ihre sexuelle Orientierung beschrieb. Dann knallte sie ihnen die Tür vor der Nase zu.
Patrick Worrall: Endspiel. Thriller. Aus dem Englischen von Anne Fröhlich. München: Goldmann Verlag, 2023. S. 103.
Einen Moment herrschte Stille. Dann sagte der Botschafter: „Also, wir können berichten, dass Miss Forschewa gesund und munter ist, meine Herren.“